Das Problem psychologischer Einflüsse auf das Strafurteil
Das Gesetz geht von einem unbeeinflussten Richter aus, dessen Entscheidungen allein aufgrund der objektiven Tatsachen getroffen werden. Andere Beweggründe und Einflüsse sollen angeblich nicht relevant sein. So hat z.B. das BVerfG festgestellt:
»Das Kernstück des Strafprozesses ist die Hauptverhandlung. In ihr wird nach dem mehr summarischen Vor- und Zwischenverfahren der Sachverhalt endgültig aufgeklärt und festgestellt, und zwar in einer Weise, die nach allgemeiner Prozesserfahrung größte Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und zugleich für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten und damit für ein gerechtes Urteil bietet.«
(BVerfG, 26.03.1987 – 2 BvR 589/79; 2 BvR 750/81; 2 BvR 284/85 = BVerfGE 74, 358, 372.)
Die Richter gefallen sich in dieser Rolle. Die Öffentlichkeit achtet die Richter für diese Rolle.
Leider geht die Annahme an der Wirklichkeit vorbei und ignoriert gefestigte wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psychologie. Richter unterliegen, wie alle anderen Menschen auch, starken psychologischen Einflüssen, die mit Wahrheitsfindung und Objektivität nichts zu tun haben, sie vielmehr erschweren und behindern.
Die Einflüsse können bewirken, dass nicht der korrekte Sachverhalt oder die „wirkliche Wahrheit“ im Urteil festgestellt werden. Prof. Dr. Wilhelm führt zu Recht aus, dass bereits kleinste Abweichungen und Ungenauigkeiten zu erheblichen Abweichungen beim Gesamtergebnis führen können (Wilhelm, Fehlerquellen bei der Überzeugungsbildung, HRRS 2016, 279, 281).
Der Verteidiger sollte zumindest von diesen „ungewollten“ Einflüssen Kenntnis haben. Nur so kann er bestimmte Verfahrenssituationen einschätzen und adäquat agieren; vielleicht sogar manchen Trugschlüssen entgegenwirken.
Das Strafverfahren als Bestätigung von Arbeitshypothesen
Anfangsverdacht = polizeiliche Arbeitshypothese
Die polizeiliche Ermittlungsarbeit ist geprägt vom Überführungswillen, mehr als vom Aufklärungswillen. Sie sucht Beweise, die den Anfangsverdacht bestätigen, um Ihre Arbeitshypothese zu rechtfertigen.
Entlastungsbeweise kennt das Ermittlungsverfahren nur von der Gesetzestheorie her. In wie vielen Verfahren beklagt die Verteidigung die einseitige Ermittlung, die auch offensichtliche Beweise, die der Entlastung dienen könnten, ignoriert hat.
Die Vernehmungen werden entsprechend geführt. Entlastende Zeugen werden teilweise, da für das Verfahren (die Verurteilung) „nicht sachdienlich“, gar nicht aktenkundig gemacht, teilweise sogar in Parallelverfahren „geparkt“.
Die Ermittlungsakte spiegelt (nur) die „erfolgreiche“ Polizeiarbeit wieder, und mündet in dem …
Schlussbericht der Polizei
Der Schlussbericht (oder Schlussvermerk) der Polizei ist der StPO fremd, dem Rechtsalltag dagegen nicht.
Der Schlussbericht, insbesondere wenn er „narrativ“, also erzählend geschrieben ist, hat eine unglaublich suggestive Wirkung auf den Empfänger, also den Staatsanwalt. Ist die Geschichte in sich plausibel, wird regelmäßig nicht ernsthaft gegengeprüft.
Zudem spiegelt ja die Ermittlungsakte praktischerweise den Schlussbericht wieder.
Gelegentlich lässt die Anklage auch in weiten Teilen die Texte des Abschlussberichts erkennen.
So wird die Arbeitshypothese der Polizei zur Arbeitshypothese der Staatsanwaltschaft, welche diese in Form der Anklageschrift nunmehr dem Gericht unterbreitet.
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft
Der Instanzrichter muss nun über die Zulassung der Anklageschrift entscheiden. Natürlich werden Anklagen vermehrt „narrativ“ geschrieben. Sie klingen plausibel und rund und sind mit für die rechtliche Beurteilung unnötigen emotionalen Gimmicks gewürzt.
Der Anklage hinderliche Gesichtspunkte sind bestenfalls in den wesentlichen Ergebnissen der Ermittlungen erwähnt, und dort – wen wundert’s – weit hinten.
Der Richter hat keinen Anlass an der Arbeit seines zuverlässigen Kollegen zu zweifeln und lässt die Anklage zu. Der Schulterschlusseffekt läßt grüßen.
Eröffnungsbeschluss des Instanzrichters
Jetzt gibt es kein Halten mehr. Der Richter hat sich die Arbeitshypothese der Polizei zu Eigen macht. Und Sie wissen ja, wer A sagt muss auch B sagen.
Die Hauptverhandlung soll nur noch schnell das gefundene Beweisergebnis bestätigen, die ein revisionsfestes Urteil ermöglichen.
Widersprechende Verteidiger oder Beweise erzeugen ein ungutes Gefühl, eine sog. kognitive Dissonanz. Glücklicherweise hat die menschliche Psyche Automatismen parat, die darüber hinweghelfen. Die oft unbewußten Strategien zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen.
Endlich ist es soweit, es folgt mit höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit die …
Verurteilung des Angeklagten
Was hilft uns diese Erkenntnis?
Leider gibt es keine Patentrezepte, um die psychologischen Effekte zu minimieren. Jetzt beginnt die Reise erst. Wir Strafverteidiger müssen nach Wegen suchen, den Richtern ihr Menschsein näher zu bringen, ohne sie zu verschrecken. Erst dann kann man bestenfalls gemeinsam nach Wegen suchen, der Wahrheit näher zu kommen.
Diesen „Teufelskreis“ haben Sie sehr anschaulich umschrieben. Diese Phänomene lassen sich zudem empirisch und kognitionspsychologisch belegen: In der soziologischen Betrachtung ist man geneigt, das Ganze als „Selbstabdichtung“ zu titulieren, was kein Vorwurf an „das System“ sein soll, sondern ausschließlich den menschenimmanenten Mechanismen der Wahrnehmungsbildung geschuldet ist.
Strafverfolgung ist schließlich keine mechanisierte Massenabfertigung anonymer Schicksale. Strafverfolgung ist Arbeit am Menschen. Sie wird außerdem ausschließlich von Menschen ausgeübt („Datenkraken“ einmal ausgenommen…) und diese bringen bei ihrer Tätigkeit als „Verfolger“ all jene Stärken und Schwächen mit ein, die uns Menschen als Spezies eigen sind. Wenn daher – spielerisch – als Bewertung jeglicher menschlicher Wahrnehmung ein Topos oder ein Sinnbild gefunden werden müsste, wäre es mit „Verzerrung und Einbildung“ wie Topf auf Deckel geprägt. Die denkbaren Formen der Beeinflussungen reichen dabei von der körperlichen Konstitution (Hunger, Durst, Langeweile ) über die individuelle Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsgabe bis hin zur konkreten Intensität vorgefestigter Rollenbilder und Vorurteile. Menschen haben die bewundernswerte Gabe, bei gleicher (wenn nicht sogar identischer) Lage der Umstände, diametral verlaufende Urteile und Entscheidungen zu fällen. Zudem sind sie „befähigt“, gründlich und unwiederbringlich zu verdrängen, kurz zuvor eine völlig gegenteilige als die aktuelle artikulierte Ansicht postuliert zu haben.
Mit den Arbeitshypothesen, wie sie der Inkulpation zugrundeliegen, ist das nicht viel anders:
Neu erlangte bzw. ausgewertete Informationen, die eine bereits bestehende These begründen (d.h. positiv verstärken) werden systematisch überschätzt, wohingegen solche Informationen, die die These widerlegen würden, systematisch und konsequent
unterschätzt werden (ein Auswuchs der sog. „koginitiven Dissonanz“ nach Festinger). Das heißt konkret, dass mit der Fixierung auf eine bestimmte Annahme ab diesem Moment jede weitere Reizaufnahme durch diese Vorannahme vorgeprägt wird. Das zeitigt nicht lediglich Auswirkungen auf die Aufnahme der Reize, sondern sogar auf deren Generierung. Die daraus resultierende, „selektive Informationssuche“ wiederum bewirkt, dass eine einmal akzeptierte Hypothese dazu führt, dass in der Folge bevorzugt solche Informationen gesucht werden, die die ursprüngliche These bestätigen. Ergo: Umso verstetigter die Grundprämisse, umso effektiver die Selektion. Die Fähigkeit zum „Umdenken im Kopf“ wird durch das Blockieren aller Denkalternativen sukzessive vereitelt. Man sieht ausschließlich das, was man sehen wollte und will nur das sehen, was man sehen konnte.
Dagegen „tun“ kann man leider recht wenig, denn sogar bei Kenntnis der eigenen Fehlbarkeit wirken diese (und viele andere) Verzerrungsmechanismen fort. Mehr Selbstreflexion und eine offensivere Fehlerkultur im Umgang mit diesen Phänomenen wären allerdings ohne Zweifel dazu geeignet, etwas mehr „Menschlichkeit“ in den Gesamtprozess zu bringen.
Vielen Dank Herr Kollege Dr. Gerson für Ihren Kommentar.
Mein Blogbeitrag war ja eher ein kleiner Einstig in die Problematik. Sie haben sich ja wissenschaftlich mit den Problemen auseinandergesetzt. Ich habe zwar Ihre Dissertationsschrift „Das Recht auf Beschuldigung“, das sich intensiv auch mit den Arbeitshypothesen-Problem auseinandersetzt am Schreibtisch (noch druckfrisch?) und auch schon darin geblättert. Bislang hatte ich leider nicht die Zeit, es in mein Seminarskript einzuarbeiten oder auch nur in diesen Blogbeitrag. Was ich bislang gelesen habe, sollte die Diskussion um diese und weitere Problematiken im Strafprozess bereichern.
HG RA Sascha Petzold