Immer wieder berichten Strafverteidiger und auch Journalisten, sie hätten das Gefühl gehabt, im falschen Film gewesen zu sein, als sie die Urteile lasen. Umso mehr erstaunt die Hartnäckigkeit der Strafjustiz, eine vernünftige Dokumentation der Beweisaufnahme einzuführen oder zuzulassen.
Die Strafjustiz zeigt kein Interesse an der Wahrheit
Während in vielen Ländern ein Wortprotokoll in Strafverfahren eine Selbstverständlichkeit ist, würde die Dokumentation im deutschen Strafprozess schnell abgeschafft.
Zwar wurde 1964 das Inhaltsprotokoll auch vor dem Landgericht eingeführt. Doch der BGH hat schnell geklärt, dass er weiterhin wenig Interesse an der Wahrheit hat.
1974 wurde das Inhaltsprotokoll vor dem Landgericht wieder abgeschafft.
Angst vor erfolgreichen Revisionen
2004 wurde die Möglichkeit für ein Tonbandprotokoll eingeführt, jedoch ausdrücklich nicht für Verfahren beim Landgericht oder Oberlandesgericht.
Zwar kann grundsätzlich die Revision nicht darauf gestützt werden, ein Zeuge habe in der Hauptverhandlung etwas anderes bekundet, als im Urteil festgestellt, (…).
(…), wäre zu erwarten, dass auch Tonbandaufzeichnungen im landgerichtlichen Verfahren eine Verfahrensrüge nach § 261 StPO begründen können. (…)
Mit erstaunlicher Ehrlichkeit dokumentiert der Gesetzgeber, dass die richterliche Phantasie nicht durch die Wahrheit eingeengt werden darf. In diesem Sinne auch jüngst der Richter Jürgen Heinrich in seinem Buch zur Konfliktverteidigung.
Täuschen Richter wirklich?
Der Bundesgerichtshof hat mit seinen Erfindungen
- Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung
- Unzulässige Rüge der Aktenwidrigkeit
dazu beigetragen, dass dieses Problem der revisions-optimierten Urteile nicht Gegenstand der Rechtsprechung werden kann. Jetzt hat die Strafverteidigung aber Argumentationshilfe vom Europäischen Gericht für Menschenrechte (EGMR) bekommen, und zwar in seiner Entscheidung vom 19.07.2012 (Individualbeschwerde Nr. 26171/07 (H ./. Deutschland))).
Es ging um Beweiswürdigung bei einem Verstoß gegen das Konfrontationsrecht nach Art 6 EGMR. Der Bundesgerichtshof (BGH) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatten das angefochtene Urteile gehalten und eine ernsthafte Auseinandersetzung wie üblich verweigert.
Erst der EGMR hat unter Rn. 50 die Widersprüchlichkeiten der Zeugenaussagen aufgezeigt und unter Rn. 51 mitgeteilt, dass diese Teile der Aussage im Urteil des Landgerichts nicht angesprochen wurden.
Damit hat das Landgericht gezeigt, dass es die Fortbildung verstanden hat:
Also schreibe nur, was wir lesen wollen!
Das Böhringer (bzw. eigentlich Toth) Urteil ist online auf der Seite des Unterstützerkreises. Hinter dem Zivilverfahren stand neben der Beweismittelgewinnung für einen Wiederaufnahmeantrag offensichtlich auch das Interesse der Familie, den im Strafverfahren eingezogenen Erbanteil des Verurteilten (der ja dann auch ein VU gegen sich ergehen ließ) wieder zurückzuholen.
Ob die Zeugen im Zivilverfahren wirklich angaben, im Strafverfahren anders ausgesagt zu haben als es im Strafurteil steht, ob es sich überhaupt um dieselben Zeugen handelt, oder ob etwaige vom Strafurteil abweichende Aussagen auf den üblichen Gedächtnisprozessen beruhen (vulgo: Vergessen, Vermischen mit weiteren Informationen anderer Zeugen), lässt sich der probence-Seite nicht entnehmen, dort ist nur der Hinweisbeschluss aus dem Zivilverfahren veröffentlicht und nicht die Protokolle.
In der PM zum Zivilverfahren wird jedenfalls nicht explizit behauptet, dass das Strafurteil die Zeugenaussagen falsch wiedergibt.
Leider bietet die probence-Seite doch auch ein paar Einblicke in ein schillerndes Verteidigungsverhalten, bei dem man zwar die lange Verfahrensdauer eines Wiederaufnahmeantrags beklagt, die aber im Wesentlichen darauf beruht, dass man den rechtlich völlig abwegigen Versuch unternommen hat, den gesetzlichen Richter für das WA-Verfahren zu beseitigen (Verweisung des WA-Verfahrens an ein Gericht außerhalb des OLG-Bezirks München) und unter anderem auf Ablehungsgesuchen gegen die zuständigen Richter .
@schneidermeister
Im Zivilprozess sollte die Erbunwürdigkeit geprüft werden, also ob tatsächlich ein Mord vorlag, Demnach darf man davon ausgehen, dass sich die Zivilrichterin an den Zeugen des Strafverfahrens entlang gehangelt hatte. Ich habe keinen Link zu den Presseartikeln, erinner mich aber dahingehend, dass sich die Zivilrichterin halt wie von mir angegeben geäußert hatte. Und wie gesagt, eigige Reporter, die den Prozess beigewohnt hatten, sagte mir persönlich, dass das Urteil die Zeugenaussagen an vielen Stellen falsch wieder gegeben hatte.
Ich würde mich freuen, wenn nach dem Wiederaufnahmeverfahren eine Art Gegenüberstellung der jeweiligen Zeugenaussagen anhand des Strafurteile, des Protokolls der Zivilverhandlung und den Mitschriften der extra engagierten Sekretärin. Ich Tippe, es wird dann 2 : 1 gegen das Strafurteil stehen.
Ich freue mich, dass tatsächlich auch Vertreter bzw. Angehörige der Strafjustiz mit der mangelnden Dokumentation hadern. Bei Nack würde ich sagen, das war eher Verbalerotik. Nack war ja ein großer Verfechter der Abschaffung der Angeklagtenrechte und, na ja – ich sag nur Olli-Kahn-Senat.
Es gibt aber andere, wie z. B. den aktuellen BGH-Richter Eschelbach, der die Situation auch an vielen Stellen bemängelt, und dann gibt es die leise Richterschaft, die die Situation nicht mögen, danke an T.H., RiAG.
@schneidermeister
Gerade das Urteil des EGMR dokumentiert doch (endlich) den Missbrauch der schriftlichen Urteilsbegründung.
Ich warte noch auf eine Dokumentation des Böhringer-Falles aus München. Dort hatte die Verteidigung erreicht, dass ein Teil der Beweisaufnahme vor einer Zivilkammer neu durchgeführt wird. In der Presse war zu lesen, dass sich die Zivilrichterin über die nicht erklärbaren Divergenzen zwischen den angeblichen Zeugenaussagen laut Strafurteil und en nunmehr gemachten Aussagen bei der Zivilkammer geäußert hatte.
Da kann sich jeder sein eigenes Bild machen.
Vielleicht sollte man hin und wiedermit Verallgemeinerungen ein wenig zurückhaltender sein: es ist nämlich mitnichten „die Strafjustiz“ in Gänze, die sich einer Dokumentation der Hauptverhandlung widersetzt. Zumindest in der Generation U40, der ich (noch) selbst angehöre, gibt es nicht wenige Kollegen, die den derzeitigen Zustand für änderungsbedürftig halten bzw. denen nicht einzuleuchten vermag, warum in einer Strafrichtersache, bei der die Frage nur lautet „20 Tagessätze oder 153a?“, zumindest die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen protokolliert werden, während dies beim Schwurgericht, das einen Angeklagten mal eben dauerhaft wegsperren kann, nicht der Fall ist. Dass sich konservative und v.a. „höherrangige“ Kollegen teils massiv wehren soll allerdings auch nicht verschwiegen werden.
Trotzdem könnte ich mir durchaus vorstellen, dass es der Anwaltschaft gemeinsam mit (Teilen) der Richterschaft zumindest gelingen könnte, nochmal eine Reformdiskussion anzustoßen. Allerdings sollte man entsprechende Versuche vielleicht nicht unbedingt mit dem pauschalen Vorwurf, die gesamte Strafjustiz fürchte die Wahrheit, beginnen. 😉
@T.H.,RiAG
Sie haben mal wieder im Wesentlichen Recht. Aber ich frage Sie, was wäre der Alltag ohne Poemik, ein bisschen langweilig – oder?
@RA Petzold
Jetzt lassen Sie mich halt ein bisschen gegen Polemik polemisieren….
@ T.H., RiAG
… und dann gehen wir ein Bier trinken und krempeln den Strafprozess um!
Darf ich vorbeikommen, wenn ich mal wieder in München bin?
Klar, wenn Sie das Bier mitbringen. Dann können wir auch an der gemeinsamen Strategie zur Verbesserung des Strafprozesses arbeiten und die Polemik im Büro lassen.
@Nierenz:
Dafür haben Sie eben in den USA und GB trotz hervorragender Protokolle (Ausnahmen bestätigen die Regel: Vor Kurzem wurde bekannt, dass ein frustrierter Protokollführer nur „I hate my job“ tippte…..) eine Jury, die nach freier und anhand der Urteilsgründe gar nicht überprüfbarer Beweiswürdigung den Schuldspruch fällt, ob rational begründet und/oder begründbar oder nicht, weiß dann keiner, weil das Urteil nur eine Seite lang ist.
Abgesehen davon gibt es einen entsprechenden Vorschlag der BRAK zur Aufzeichnung der HV, der von einem ehemaligen BGH-Senatsvorsitzenden mit verfasst wurde, es stimmt also nicht, dass nur „die Strafverteidiger“ eine Dokumentation fordern.
Ob man dann ermöglichen sollte, die Revision dann auch auf Verfälschungen bei der Wiedergabe der Beweisaufnahme zu stützen (bzw. wie lange dann die Revisionsbegründungsfrist sein müsste, wenn der Verteidiger /Nebenklagevertreter/StA nach x Wochen das schriftliche Urteil und die Aufzeichnung einer x-tägigen Hauptverhandlung abgleichen will), sollte man dann auch noch überlegen. Bzw. was eine echte Verfälschung und was eine Verkürzung ist, wo doch im Urteil eben nicht neben der Aufzeichnung nochmals alle Aussagen vollständig im Wortlaut wiedergegeben werden sollen.
Interessanterweise wird in der Verteidigerliteratur immer gerne das bonmot vom „falschen Film“ gebracht und die Behauptung von absichtlichen oder fahrlässigen Verfälschungen in den Urteilsgründen. Konkrete Belege dafür oder wenigstens mal ein konkretes Verfahren, aus dem die Urteilsgründe und die angeblich tatsächlich getätigten Aussagen gegenübergestellt werden gibt es aber praktisch trotz der angeblichen Häufigkeit dieses falschen-Film-Erlebnisses nicht (mW allenfalls mal bei Geipel im Handbuch der Beweiswürdigung, wo das Sedlmayr-Urteil und ein Vergewaltigungsfall analysiert werden).
Ob der eine oder andere Verfahrensbeteiligte (damit meine ich alle) wirklich will, dass das Revisionsgericht seine Äußerungen und verschwurbelten Fragen – wenn es denn welche waren – („wenn ich Sie richtig verstanden habe, ich fasse das mal so zusammen, haben Sie vorhin auf die Frage…. gesagt,… ist das so richtig oder kann es nicht auch so gewesen sein, dass oder können Sie das ausschließen?“) ebenfalls durchleiden muss?
Das Durchleiden der verschwurbelten Fragen würde dem einen oder anderen Revisionsgericht aber zumindest recht geschehen… 😀
Dann mal ran an den Wahlkreisabgeordneten.
Man hat als Verteidiger schon gelegentlich den Eindruck, bei einer ganz anderen Hauptverhandlung zugegen gewesen zu sein. In Großbritannien und den USA sind Mitschriften der Aussagen Standard, auch der Einlassung des Beschuldigten. Wenn man sich überlegt, was daran hängt – beim Amtsgericht wird noch mitgeschrieben im Protokoll, es geht hier um Landgericht als Berufungsinstanz, als erste Instanz und die Oberlandesgerichte, also die Instanzen, wo es um was geht, wo dann aber keine Beweisaufnahmen mehr stattfindet und die Aussagen oder Sachverständigenäußerungen festgemeißelt sind – dann ist die Forderung nach einer Aufzeichnung ZWINGEND, insbesondere, weil sie technisch überhaupt kein Problem ist. Auch Übersetzungsfehler von Dolmetschern könnten so aufgezeigt werden.
RAFA StrR Daniel Nierenz, Netphen
Was meinen Sie, woher der EGMR in der von Ihnen zitierten Entscheidung „H. ./. Deutschland“ gewusst hat, dass die Zeugenaussagen nicht kohärent waren? Ganz einfach, da gab es nämlich ein Inhaltsprotoll (= Protokoll der Zeugenvernehmung vor dem Ermittlungsrichter, über dessen (!) Zeugenaussage dann die anderen Aussagen eingeführt wurden).
Die Entscheidung des EGMR hat deshalb mit der Protokollierungsfrage nicht das Geringste zu tun (sondern mit der ganz anderen Baustelle des „mittelbaren Beweises“).
@ Kraemer
Das Urteil zeigt auf, dass das LG versucht hat die Aussagen im Urteil revisionssicher mitzuteilen, also falsch wieder gegeben hat. Deshalb fordern die Strafverteidiger eine Dokumentation.