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Fehlurteile und Wiederaufnahme im Strafprozess

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Nach Einschätzung des Richters am Bundesgerichtshof (BGH) Dr. Ralf Eschelbach sind 1/4 aller Strafurteile Fehlurteile. Deswegen stellt sich die Frage, wie kommt es zu Fehlurteilen und wie können diese in Wiederaufnahmeverfahren korrigiert werden. Während die Justiz hierzu scheinbar keinen Aufklärungsbedarf sieht und die einzige erkennbare Tendenz ist, die Fehlurteile um jeden Preis aufrecht zu erhalten, hat der Strafrechtsausschuss des DeutschenAnwaltVerein zu einem Expertengespräch geladen. (AnwBl 2014, 741 f.)


Nach den Erkenntnissen des Innocence Projekt basieren 25 % der dort durch DNA bewiesenen Fehlurteile auf falsche Geständnissen.

Aber wer belastet sich selbst zu Unrecht?

Der Spiegel-Journalist Dr. Thomas Darnstädt erklärt das anhand eines Beispiels:

Im Bauer-Rupp-Fall waren sie (die Geständnisse) von der Polizei in den Mund gelegt worden. Diese hatte eine Hypothese zum Tathergang entwickelt und dann die – ohnehin nicht sehr hellen – Angeklagten so lange bearbeitet, bis sie die vermeintlichen Tathandlungen bestätigten.

Hier ist das Beispiel Dokumentiert. Zynisch könnte man von „coaching the whitness“ sprechen:

Unausgeschöpte Verteidigungsmöglichkeiten

RiBGH Dr. Eschelbach empfiehlt für ein Wiederaufnahmeverfahren ein besonderes Augenmerk auf diese Konstellationen zu werden:

  • Unzureichende Beweisgrundlagen nach einem gedealten Urteil, neue Beweise und Tatsachen sollten diese leicht erschüttern können.
  • Sachverhaltsverfälschung im Urteil, entweder wurden entlastende Indizien bewusst ausgelassen (dann Rechtsbeugung) oder diese sind neue Tatsachen im Wiederaufnahmeverfahren.
  • Bei Aussage gegen Aussage

Fehlende Bereitschaft der Justiz zur Korrektur

Prof. Dr. Klaus Marxen kritisiert, dass die gesetzlichen Hürden von der Justiz missachtet werden, und gegen das Gesetz zu hoch angesetzt werden.

Dies zeigt sich auch bei den bekannt gewordenen spektakulären Wiederaufnahmeverfahren. Meist musste die Wiederaufnahme durch mehrere Instanzen erstritten werden. Auch im Fall Rupp hat das Landgericht eine Wiederaufnahme zunächst abgelehnt, obwohl der abgeurteilte Sachverhalt offensichtlich nicht stimmen konnte. Erst das OLG München hat die Rechtsverweigerung korrigiert.

Weitere Beispiele können Sie nachlesen
» Darnstädt: „Der Richter und sein Opfer“
» Rückert: „Unrecht im Namen des Volkes“
» Friedrichsen: „Im Zweifel gegen die Angeklagten: Der Fall Pascal – die Geschichte eines Skandals“

Nachtrag nach dem Kommentar von Stefan.

Auszug aus dem Beck-Onlinekommentar zu § 261 StPO, Rn 63.2 (Stand 30.09.2013):
„Dass die Zahl der Fehlurteile, die einen in tatsächlicher Hinsicht falschen Schuldspruch enthalten, sehr viel höher ist, als Richter es ahnen, ist sicher (Hirschberg Das Fehlurteil im Strafprozess 1960, 12). Schon eine Schätzung fällt allerdings schwer. Annäherungsweise kann man auf Folgendes verweisen: Liegt die Quote der Urteilsabänderungen in Zivilsachen nach dem Maßstab des § 529 Abs 1 Nr 1 ZPO, vornehmlich aus Beweisgründen, bei 30 bis 40 %, so ist sie in der strafprozessualen Revisionsinstanz, die nach Strafkammerurteilen die einzige Kontrollinstanz ist, nur bei einem Zehntel jener Quote angesiedelt (Barton StV 2004, 332, 336), soweit man nicht ganz marginale Änderungen hinzurechnet. Daraus und aus der Freispruchsquote, die in den jury-Verfahren des US-Rechts durch nicht aktenkundige Beurteiler bei einem Drittel liegt, in Deutschland mit der Dominanz der durch den Akteninhalt beeinflussten Berufsrichter aber unter drei Prozent, folgt, dass die Fehlurteilsquote schon in „streitigen“ Strafsachen in Deutschland auch unter Beachtung der Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekte aufgrund des einseitigen Systems der Sachverhaltsermittlung unter Abzug eines Sicherheitsabschlags grob geschätzt bei einem Viertel liegen dürfte (vgl Geipel Handbuch der Beweiswürdigung, 22 ff); dies ist alleine angesichts einer zweiziffrigen Prozentzahl falscher Geständnisse (→ Rn 12.1) eher niedrig gegriffen. Jedenfalls ist sie erheblich (Schwenn StV 2010, 705, 706). Dem korrespondiert eine Quote von Falschaussagen bei Zeugen, die auf 30 bis 40 % geschätzt wird (Köhnken Böse Eloquenz Die Zeit 3.4.2008 Nr 15 – www.zeit.de/2008/15/Interview-Koehnken) und sich namentlich in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, infolge der bekannten Inertiaeffekte sowie der Unzulänglichkeit der tatrichterlich-intuitiven Beweiswürdigungsmethode zur Aufdeckung intentionaler Falschaussagen verheerend auswirkt.“

  1. Motzki 2 Aug 2014 | reply

    tja, und dass dann noch „Justizfreund“ RA Petzold nicht einmal in der Lage ist darzustellen, dass nicht jedes Fehlurteil einen Wiederaufnahmegrund in sich birgt, setzt dem Ganzen die Krone auf.

    Hier ist wohl eher der Gesetzgeber als die Justiz gefragt.

    • Sascha Petzold 2 Aug 2014 | reply

      @Motzki
      Macht das die Sache nicht umso trauriger. Welches Interesse hat der Gesetzgeber/die Gerichte, Fehlurteile aufrecht zu erhalten? Das Arguments des Rechtsfriedens kenne ich freilich – Allein, es ist nicht überzeugend.

      Der Gesetzgeber hat nach intensiven Impulsen von Max Alsberg die Wiederaufnahme gesetzlich geregelt. Vielleicht kann man da noch nachbessern. Es zeigt sich jedoch, dass viele Gerichte nicht bereit sind, Verfahren wieder aufzunehmen, nur weil die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Ich hatte da schon schöne Beispiele; zuletzt bei Bauer Rupp. Das hat das Landgericht einfach – ohne Beweisaufnahme – den Sachverhalt ausgetauscht, nach dem Motto
      „Tod ist Tod; irgendwie werden sie ihn schon umgebracht haben!
      Das war eindeutig gegen die Rechtsprechung des BVerfG, die dem Gericht auch bereits vorher mitgeteilt wurde. Dementsprechend klar viel auch die Entscheidung des OLG München aus.

  2. Stefan 1 Aug 2014 | reply

    Wie hoch die „Fehlurteilsquote“ wirklich ist, ist schwer zu beurteilen.

    Was man ohne weiteres beurteilen kann, ist die vollständige Substanzlosigkeit der 25%-Schätzung von Eschelbach (in: BeckOK-StPO, § 261 Rn. 63.2), die sich zum einen aus den Zahlen für erfolgreiche Berufungen in Zivilsachen und zum anderen aus den Freispruchsquoten im US-amerikanischen Jury-Prozess speist – da werden Äpfel nicht einmal mit Birnen, sondern mit Kartoffeln verglichen.

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