Jul 7

Auch wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist – irgendwann ist Schluss!

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OLG Dresden, Beschl. v. 19.11.2013 – 2 Ws 599/13

1.) Mag die Haftverschonung vom Beschuldigten vor dem Hintergrund eines drohenden Vollzugs von Untersuchungshaft zunächst auch als Rechtswohltat empfunden werden, so ändert dies doch gleichwohl nichts daran, dass der Fortbestand des Haftbefehls vor allem auch unter Berücksichtigung der freiheitsbeschränkenden Auflagen nach wie vor mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit verbunden ist.
2.) Eine Haftsache ist deshalb auch dann wie eine Haftsache zu behandeln, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil er außer Vollzug gesetzt ist.
3.) Angesicht der Bedeutung und Tragweite des Freiheitsanspruchs des Angeschuldigten kann bei dem in vorliegender Sache ungewissen Hauptverhandlungsbeginn der außer Vollzug gesetzte Haftbefehl mit einer seit nunmehr einem Jahr und fünf Monaten bestehenden Meldeauflage nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Leitsätze

Zum Sachverhalt

… Der Haftbefehl wurde am 19. Juni 2012 erlassen und nach Festnahme des Angeschuldigten am 20. August 2012 am selben Tag in Vollzug gesetzt.

Am 4. September 2012 ordnete die Strafkammer nach mündlicher Haftprüfung die Fortdauer der Haft an. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde des Angeschuldigten setzte das Oberlandesgericht Dresden mit Beschluss vom 22. Oktober 2012 (Az.: 2 Ws 443/12) den Haftbefehl außer Vollzug. Dem Angeschuldigten wurde unter anderem eine wöchentliche Meldeauflage bei dem für ihn zuständigen Polizeirevier erteilt. Der Angeschuldigte hatte des Weiteren seinen Pass und Personalausweis abzugeben und durfte das Bundesgebiet nicht ohne vorherige Zustimmung der Strafkammer verlassen.

Am 9. Juli 2013 beantragte der Angeschuldigte erneut die Aufhebung des Haftbefehls. Mit Beschluss vom 21. August 2013 lehnte die Strafkammer die Aufhebung mit der Maßgabe ab, dass die Meldeauflage nur noch alle zwei Wochen zu erfüllen sei, hob das Ausreiseverbot auf und ordnete die Herausgabe der Personaldokumente an. Mit Beschluss vom 4. September 2013 wurde die Meldeauflage hinsichtlich eines anderen Polizeireviers erteilt.

Gegen den Beschluss richtet sich der Angeschuldigte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, die Beschwerde des Angeschuldigten aus den zutreffenden, durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräfteten Gründen der angefochtenen Entscheidung und der Nichtabhilfeentscheidung als unbegründet zu verwerfen.

Aus den Gründen

Das Rechtsmittel des Angeschuldigten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Haftbefehls, obgleich der Haftbefehl derzeit nicht vollstreckt wird (§ 120 Absatz 1 Satz 1 StPO). Der weitere Bestand des Haftbefehls ist trotz seiner Außervollzugsetzung nicht mehr verhältnismäßig und verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Absatz 2 Satz 2 GG.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. für den vorliegenden Fall nur BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05 -, juris) nimmt die Freiheit der Person – als Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers (BVerfGE 19, 342 <349>; 53, 152 <158>) – einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Daher darf eine Freiheitsentziehung nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Zu solchen Belangen, gegenüber denen der Freiheitsanspruch eines Beschuldigten unter Umständen zurücktreten muss, gehören die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafrechtspflege. Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen Grundsätze lässt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur erreichen, wenn den Freiheitsbeschränkungen, die vom Standpunkt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege aus erforderlich sind, ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten wird (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 35, 185 <190>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158>). Dies bedeutet, dass zwischen beiden Belangen abzuwägen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der dort zu erwartenden Strafe Grenzen setzt (vgl. BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 20, 144 <148>; 53, 152 <158 f.>), und zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <159>).

Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben gelten nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl. Sie sind darüber hinaus auch für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl (§ 116 StPO) von Bedeutung (vgl. BVerfGE 53, 152 <159>). Beschränkungen, denen der Beschuldigte durch Auflagen und Weisungen nach § 116 StPO ausgesetzt ist, dürfen nicht länger andauern, als es nach den Umständen erforderlich ist (vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 6. Juli 2004 – 2 Ws 301/04 -, StV 2005, 396 <397>). Denn auch dann, wenn Untersuchungshaft nicht vollzogen wird, kann allein schon die Existenz eines Haftbefehls für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung darstellen, weil sich mit ihm regelmäßig die Furcht vor einem (erneuten) Vollzug verbindet (vgl. BVerfGE 53, 152 <161>).

Mag die Haftverschonung vom Beschuldigten vor dem Hintergrund eines drohenden Vollzugs von Untersuchungshaft zunächst auch als Rechtswohltat empfunden werden, so ändert dies doch gleichwohl nichts daran, dass der Fortbestand des Haftbefehls vor allem auch unter Berücksichtigung der freiheitsbeschränkenden Auflagen nach wie vor mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit verbunden ist.

Es versteht sich deshalb von selbst, dass auch ein weniger einschneidendes Mittel, durch welches eine schwerwiegendere grundrechtsbeschränkende Maßnahme ersetzt worden ist, in seinem Fortbestand auch weiterhin im Lichte des Freiheitsrechts und unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit stets von Neuem zu überprüfen ist (vgl. BVerfGE 53, 152 <160>). Eine Haftsache ist deshalb auch dann wie eine Haftsache zu behandeln, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil er außer Vollzug gesetzt ist (so auch bereits KG, Beschluss vom 11. Juli 1991 – 4 Ws 124/91 -, StV 1991, 473; Beschluss vom 18. August 2003 – 3 Ws 370/03 -, StV 2003, 627 <628>; OLG Köln, Beschluss vom 6. Juli 2004 – 2 Ws 301/04 -, StV 2005, 396 <398>).

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem im Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 Absatz 2 Satz 2 GG) verankerten Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu. Dieses verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über den Anklagevorwurf mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizuführen (vgl. BVerfGE 20, 45 <50>); kommt es aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung, so steht dies der Aufrechterhaltung des Haftbefehls regelmäßig entgegen. Namentlich ist eine nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts mit Haftsachen selbst dann kein Grund, der die Aufrechterhaltung eines Haftbefehls rechtfertigt, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Denn der Beschuldigte hat es nicht zu vertreten, wenn seine Haftsache nicht binnen angemessener Zeit zur Verhandlung gelangt, weil dem Gericht die personellen oder sächlichen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich wären (vgl. BVerfGE 36, 264 <274>).

Dementsprechend stimmen die Fachgerichte darin überein, dass unabhängig von der Höhe einer zu erwartenden Strafe auch ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufzuheben ist, wenn in Folge einer vom Beschuldigten nicht zu vertretenden Verletzung des Beschleunigungsgebots das Verfahren bereits längere Zeit nicht gefördert wurde und darüber hinaus ungewiss ist, wann das Hauptsacheverfahren (neu) eröffnet und Termin zur Hauptverhandlung anberaumt werden kann (vgl. KG, Beschluss vom 10. Januar 1985 – 4 Ws 336/84 u. a. -, StV 1985, 67; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1984 – 2 Ws 325/84 -, StV 1985, 66; KG, Beschluss vom 1. Dezember 1988 – 4 Ws 230 und 231/88 -, StV 1989, 68; KG, Beschluss vom 11. Juli 1991 – 4 Ws 124/91 -, StV 1991, 473; OLG Bremen, Beschluss vom 29. August 1994 – Ws 138/94 -, StV 1994, 666; OLG Oldenburg, Beschluss vom 18. Dezember 1995 – 1 Ws 208/95 -, StV 1996, 388; KG, Beschluss vom 18. August 2003 – 3 Ws 370/03 -, StV 2003, 627 <628>; OLG Köln, Beschluss vom 6. Juli 2004 – Ws 301/04 -, StV 2005, 396 <397>; LG Hamburg, Beschluss vom 4. September 1984 – (98) 12/84 KLs -, StV 1985, 20 <21>; LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 24. April 1989 – 5/27 Qs 34/88 – 90 Js 31063/86 – 933 Ls 266 -, StV 1989, 486 <487>; LG Köln, Beschluss vom 19. Mai 1989, NStZ 1989, 442 <443>; LG Gera, Beschluss vom 1. Juli 1996 – 261 Js 12036/94-5 KLs -, StV 1997, 141 <142>).

Ebenso ist anerkannt, dass erst noch bevorstehende, aber schon jetzt absehbare Verfahrensverzögerungen von völlig ungewisser Dauer nicht anders zu behandeln sind als bereits eingetretene (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1984 – 2 Ws 325/84 -, StV 1985, 66; LG Hamburg, Beschluss vom 4. September 1984 – (98) 12/84 KLs -, StV 1985, 20 <21>; LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 24. April 1989 – 5/27 Qs 34/88 – 90 Js 31063/86 – 933 Ls 266 -, StV 1989, 486 <487>).

Vor diesem Hintergrund kann der Haftbefehl keinen Bestand mehr haben. Angesicht der Bedeutung und Tragweite des Freiheitsanspruchs des Angeschuldigten kann bei dem in vorliegender Sache ungewissen Hauptverhandlungsbeginn der außer Vollzug gesetzte Haftbefehl mit einer seit nunmehr einem Jahr und fünf Monaten bestehenden Meldeauflage nicht mehr aufrecht erhalten werden.

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